Vive le Concert! – mit Stefan Aeby, Komponist von Borderline Experience

Projekte | 19.10.2021

Benedik Hayoz: Ich bin meine Mails durchgegangen und am 29. Juni 2020 habe ich dir geschrieben:

Ich bin am Herumdenken und bin an einer Idee am Werkeln.
Landwehr, in einem grossen, sehr grossen Raum, Publikum das durch den Raum läuft (COVID konform).
Vielleicht mit Elektronik, vielleicht ein Chor – Ideen die zur Zeit herumgeistern…
Meine Idee dreht rund um das Stück Irrlicht aus Schuberts Winterreise.

Die Täuschungen des Alltags, der Gesellschaft und die Wirren des Lebens die solche dann zu Tage fördern (wie wir gerade erleben).
Nicht etwas bombastisches – stark, erdrückend soll es nicht sein (die LW ist gross 😉 — aber eher sanft und nachdenklich im Ton, so stelle ich mir das vor.
Irgendwo höre ich dich im Projekt – Schubert der durch die Zeit gejagt wird, anders arrangiert – nur das Klavier deine Elektronik evtl. eine Sängerin als Kontrast zur Originalversion.
Die LW welche deine Arrangements aufnimmt und weiterdenkt – vielleicht in den Raum gedacht und …?!? Es ist ein Hirngespinst – aber vielleicht interessiert es dich ja.

Kannst du beschreiben was dir da durch den Kopf ging? Erinnerst du dich noch?

Ich habe dir auf deine Mail am nächsten Tag kurz und bündig geantwortet ‚klingt gut, lass uns mal darüber reden‘.

Ich fand die Idee effektiv auf Anhieb spannend und interessant. War mir aber auch von Anfang an bewusst, dass das eine grosse Herausforderung sein wird. Ich hatte ein paar Monate davor ein erstes Stück für das Ensemble Diachronie geschrieben und hab Gefallen am Komponieren für grössere Ensembles gefunden und war dementsprechend glücklich, diese Kompositionserfahrung mit der Landwehr gleich noch erweitern zu können. Ich mag Herausforderungen, Challenges mit einer klaren Aufgabe und einer Deadline und suche gern nach meinem eigenen Weg in solchen Situationen. Meine erste Reaktion war also ‚Yes, super… aber…‘.

Du bist einer der erfolgreichsten Jazz-Pianisten und Komponisten in der Schweiz. Du lebst vor allem vom Spielen von Konzerten. Somit auch viel weniger Arbeit seit März 2020. Wie war es für dich sich durch den Winter 2021 mit Schuberts Winterreise zu beschäftigen? Wie hast du den Prozess erlebt und erfahren?

Zuerst mal hatte ich Zeit fürs Komponieren. Keine Konzerte, keine Tourneen, keine Proben, keine Studiojobs, keine Reisen… Habe ich das Stück für Diachronie zu grossen Teil noch während verschiedener Tourneen an Soundchecks, in Hotels und Flugzeugen geschrieben, konnte ich mich für die Winterreise relativ entspannt in meinem Atelier zurückziehen und konzentriert arbeiten. Im Winter ist bei mir normalerweise sehr viel los mit vielen Konzerten und Tourneen. Ich war froh, den Winter 2020 mit einer Aufgabe verbringen zu können. So war es dann auch gar nicht mehr so schwierig, nicht spielen zu können.

Ich habe zum ersten Mal für ein so grosses Ensemble geschrieben. Der ganze Prozess war somit ein ständiges Lernen, Ausprobieren, Verwerfen, Suchen, Definieren, Reduzieren. Und somit unglaublich spannend. Und einnehmend. Die Gedanken drehten sich nur noch darum. Meine Familie fand mich daher etwas sozial abwesend während dieser Zeit…

Dem eigentlichen Komponieren ging aber ein längerer Brainstorming-Prozess voran.

Wie arbeitest du an Kompositionen allgemein und im Speziellen an diesem Stück?

Ich habe keine allgemein gültige Regel fürs Komponieren. Wenn ich für meine Bands komponiere, ist es oft ein Weiterentwickeln von Ideen, welche meist aus dem freien Spiel, aus der Improvisation heraus entstehen. Ein sehr intuitiver Prozess, ohne analytisch oder konzeptuell zu arbeiten. Der Kopf schaltet sich oft erst ein, wenn auch nach längerem Suchen und Ausprobieren intuitiv keine Lösung für ein Problem gefunden wird.

Ich habe bei meinen Bands eigentlich immer den Sound der Band, die Sounds der Musiker und ihre Art, Musik zu machen, im Kopf und höre beim Komponieren schon, wie die Band dann klingen wird. Oder klingen könnte…

 Für dieses Stück musste ich etwas anders an die Aufgabe herangehen. Schubert und seine Winterreise waren der Ausgangspunkt. Eine klare Vorgabe, mit welcher ich nicht nur intuitiv umgehen konnte.

Wie bereits erwähnt, ging dem eigentlichen Komponieren ein längerer Brainstorming-Prozess voran, in welchem ich mich zuallererst mit Schuberts Musik vertraut gemacht habe um anschliessend verschiedene Teile aus der Winterreise auszuwählen. Diese Auswahl war so halb intuitiv, halb bewusst. Die Stücke gefielen mir entweder musikalisch-emotional oder inhaltlich-textlich. Daraus entstand ein erstes Konzept.

Hatte ich die Auswahl getroffen und eine Idee für ein Gesamtkonzept, spielte ich die Stücke, oder Teile davon und improvisierte damit. Und schaute einfach mal, was passiert. Machte Aufnahmen, spielte dazu, probierte anderes etc… und musste am Schluss das Ganze noch auf Papier bringen.

Auf was freust du dich am meisten im Hinblick auf die Konzerte mit der Landwehr?

Ich freue mich unglaublich aufs Spielen. Wieder auf der Bühne zu stehen, mit Publikum, tut sehr gut und hat uns allen gefehlt. Wenn ich dazu noch meine eigene Musik spielen darf, umgeben von einem fantastischen Ensemble wie der Landwehr, dann ist es noch schöner.

Ich bin aber auch gespannt und sehr neugierig, ob die Ideen, die ich entwickelt habe, auch so klingen werden, wie ich mir das vorgestellt habe und wie dieses Aufeinandertreffen von Schubert, Landwehr, Gesang und einem Jazzpianisten funktionieren wird…

Der Pianist Stefan Aeby, geboren 1979 in Fribourg/Freiburg, studierte zuerst Kunstgeschichte und Musikwissenschaft, bevor er sich 2004 komplett der Musik

widmete. Seither ist er in zahlreichen Bands der jüngeren Schweizer Jazzszene sowohl als Leader als auch als Sideman aktiv und zählt du den kreativen Musikern der jüngeren Generation in Europa. Zu den aktivsten Bands zählen neben seinem Trio vor allem Christoph Irnigers Pilgrim, das Lisette Spinnler Quartet sowie die Band von Sarah Buechi. Auftritte an den wichtigsten Festivals (Cully, Schaffhausen, Basel, Montreux, London, Tokyo, Trondheim, Berlin, Los Angeles, Seoul, Dublin, Shanghai…) und über 20 CD’s zeugen von seinem Engagement.

Seine rege Konzerttätigkeit brachte und bringt ihn regelmässig nach Deutschland, Frankreich, England, Irland, Norwegen, Schweden, Finnland, Russland, Österreich, Polen, Japan, China, Südkorea, Malaysia, USA, Venezuela, Argentinien, Chile, Uruguay, Haiti, Senegal…